Jadwiga Sawicka - Zeitgenössische Kunst aus Krakau, Polen (2007)

Mariusz Salwinski
artdesigncafé - art | 30. September 2011
Der Text wurde zunächst im Ausstellungskatalog veröffentlicht ,,Otwarta pracownia— Offenes Atelier, Zeitgenössische Kunst aus Krakau" (16. September - 4. November 2007) Kunsthalle Erfurt, Deutschland.

Jadwiga Sawicka, die Verhaltensforscherin

,,Kleider machen Leute" [1]

— Gottfried Keller

Was uns Menschen bestimmt. ist genetisch manifestiert. Diese im Übrigen nicht einhellige Meinung über die Allmacht der DNS polarisiert. Anpassungen an die Umwelt können in die Chromosomenstruktur eingehen und weitergegeben werden. Bei diesem Prozess spielt der Lebensstil des Individuums eine wesentliche Rolle; Umwelt, Verhalten und Erbgut bedingen einander und sind reziprok. Der Mensch ist weder ein reines Gen-Produkt" noch ein ausschließlich kulturelles ,,Ätherwesen".

In diesen Zwischenräumen von Biologie und Alltagskultur ist die Kunst von Jadwiga Sawicka beheimatet. Die reliefartig gemalten oder photographierten Kleidungsstücke sind Quintessenz ihrer künstlerischen Aussage und gleichzeitig pars pro toto des gesamten Codes des Trägers. Sawicka schlägt die Brücke zwischen biologischen und sozialen Abläufen / Prozessen. In diesem Informationstransfer reflektiert ihre Aussage den gesellschaftlichen Kontext. Die eigentlich lose Darstellung von Hemden, Anzügen, Kleidem oder Strümpfen, Taschen und anderen Alltagsgegenständen bringt sie mit bestimmten Persönlichkeitsprofilen, Berufen, Freizeitaktivitaten oder Geschlechtem und deren Sexualität in Verbindung. Sawicka verpasst damit dem Träger seine ,,zweite Haut". Dabei spielt sie mit uralten, kulturgeschichtlich fest verwurzelten Ansichten z.B. der geschlechtsspezifischen Zuordnung bestimmter Farben— oder religiösen, berufsbezogenen oder sexuellen Zusammenhängen.

Historisch beziehungsweise kulturphänomenologisch wandelbar sind sexuelle Spielarten in ihrer konnotativen Bedeutung von Perversion bis Norm. Jadwiga Sawicka kreiert mit ihren ,,stummen Zeugen" des täglichen Geschehens die Fetische, die durch ihre komplexen Assoziationen auf die sogenannte ,,Normalitat" verweisen. Die Intensität des sexuellen Begehrens wird durch soziale, kulturelle oder sogar religiöse Umstände und Prägungen mitbestimmt. Dieses Phänomen bezeichnet der US— Psychologe Roy Baumeister mit dem Begriff der ,,erotischen Plastizität".

Von Jadwiga Sawicka photographierte. durchsichtige. leicht zerknitterte, hautfarbene Damenstrümpfe auf himmelblauem Hintergrund erzeugen eine Ambivalenz zwischen Konkretem und Verheißenem. Sie verursachen beim Betrachter kognitive Dissonanzen und somit ein Unwohlsein, welches personliche Erfahrungen hervorruft und auf die jeweilige Sozialisation verweist. Auf einem anderen Photo sehen wir ein schones, weißes Kommunionskleid, welches mit der Unschuld des Mädchen. das es getragen hat, zu verknüpfen ist. Eine dritte Photoaufnahme aus dieser Serie zeigt das weiße, reine, mit einer Spitzenbordüre eingefasste Messhemd eines katholischen Priesters. In diesem Fall involviert uns die Künstlerin in die Diskussion über das sehr beschädigte Prestige des Priesterstandes.

Als ich Ende des Jahres 2006 in Krakau zum ersten Mal in einer Ausstellung die Bilder von Jadwiga Sawicka sah, hatte ich ein Déjà-vu. Ich erinnere die Objekte des Berliner Kunstlers Wolfram Odin, der schon vor Jahren industriell angefertigte Kleidungsstücke in Schaukasten präsentierte. Diese auf dem Hintergrund einer Tapete drapierten Kleider waren mit dem Text einer Kontaktanzeige aus der Tageszeitung versehen, womit unmittelbar auf die Wünsche und sexuellen Begierden der Leser / Betrachter verwiesen wurde. In diesem unbewussten Dialog zwischen den Künstlern zeigt sich das Besondere der Aussage von Jadwiga Sawicka in der Sparsamkeit ihres Mitteleinsatzes. Somit gibt sie uns einen unmittelbaren genetischen Abdruck in Form eines Kleidungsstückes.

Mariusz Salwiński
Ausstellungskurator

Anm. 1
Eine feste Redewendung im Deutschen und Titel der Novelle von Gotlfried Keller aus dem Jahr 1866. Das Stück behandelt das Phänomen. dass gepflegte Kleidung den Trager einflussreicher und erfolgreicher erscheinen lasst. Der Ursprung dieser Redensart geht auf den Römischen Rhetoriker Quintilian zurück: ,,vestis virum reddit": ,,Die Kleidung macht den Mann".

Vgl. Einführung des Ausstellungskataloges Otwarta pracownia— Offenes Atelier, Zeitgenössische Kunst aus Krakau.